23. Kapitel
Washington, D.C. 25. Februar
Mark Beamon zog seine Aktentasche vom Rücksitz des Wagens und umfasste den Türgriff. »Lassen Sie mich hier raus, Stan«, sagte er zu dem jungen Agenten am Steuer.
»Der Stau ist gleich da vorn zu Ende, Mr. Beamon. Wir sind in fünf Minuten da.«
»Ja, aber ich möchte einfach ein bisschen frische Luft schnappen.«
»Morgens um diese Zeit sind eine Menge Menschen auf den Straßen – da könnte Sie leicht jemand erkennen.«
Die Kontroverse darüber, ob das, was das CDFS getan hatte, letztlich eine positive Wirkung habe und moralisch zu rechtfertigen sei, wurde in den Medien zunehmend heftiger geführt, und Mark Beamons Gesicht war im Verlauf dieser Debatte in den vergangenen Wochen auf beinahe jeder Zeitung, jedem Magazin und auf sämtlichen Bildschirmen im ganzen Land zu sehen gewesen. Es gab sogar Gerüchte, dass GQ in der nächsten Ausgabe einen Artikel über ihn bringen würde, in dem man ihm besonderes Lob für sein Modebewusstsein zollte. Offenbar betrachtete man seine neun Jahre alten, zu engen Anzüge als »Retro-Schick«.
»Keine Sorge, Stan. Niemand wird mich erkennen. Man hat mir gesagt, dass ich in Wirklichkeit viel kleiner wirke.« Er sprang aus dem Wagen, schlug die Tür zu und beugte sich noch einmal zum offenen Fenster herein. Hinter ihm wurde bereits ungeduldig gehupt. »Rufen Sie Laura an und sagen Sie ihr, dass ich ein paar Minuten später komme. Danke.« Damit verschwand er in der Menge der Menschen, die unterwegs zu ihren Arbeitsplätzen waren.
Special Agent Stan Paulous runzelte die Stirn. Es hieß, man habe Beamon einen Wagen mit Fahrer zugeteilt wegen seiner allgemein bekannten Abneigung gegen Autos und seiner mangelnden Fahrkünste. Paulous war jedoch informiert worden, dass er in erster Linie dafür sorgen sollte, ihn zu etwas mehr Zuverlässigkeit zu zwingen. Im Grunde genommen war es sein Job, auf Beamon aufzupassen und sicherzugehen, dass er pünktlich dort war, wo er sein sollte. Langsam wählte er Laura Vilechis Telefonnummer und überlegte sich dabei, was er sagen sollte, um nicht ihren Zorn auf sich zu ziehen.
Mark Beamon schob seine freie Hand in die Tasche seines Regenmantels und atmete tief die spätwinterliche Luft ein. Sie roch nach Auspuffgasen und Aftershaves.
Er hatte sich in letzter Zeit wie eingesperrt gefühlt. Vom Haus zum Büro und wieder zum Haus, immer und immer wieder – ein solch streng geregelter Tag mochte für Laura optimal sein. Auf ihn hatte es jedoch eine eher negative Wirkung. Seine Gedanken begannen dann ebenfalls, in engen beschränkten Bahnen zu laufen, und Geistesblitze stellten sich unter solchen Bedingungen keine mehr ein. Genau wie ein Künstler brauchte er einfach das Chaos in seinem Leben.
Beamon bog in eine Nebenstraße ab, wo weniger dichtes Gedrängel herrschte, und beschloss, sich eine rasche Runde um den Block zu gönnen.
Auf halber Strecke trat er in einen kleinen Laden.
»Eine Packung Marlboros, bitte«, sagte er und zog aus seiner Gesäßtasche ein zerschlissenes Portemonnaie.
Der alte Mann musterte ihn neugierig, während er unter der Theke die Zigaretten hervorholte und den Preis in eine prunkvolle alte Registrierkasse eintippte. Die Summe erschien im Fenster der Kasse, die aussah wie ein Miniaturgrabstein.
Beamon reichte ihm einen Schein und beobachtete seine Miene, als er das Wechselgeld abzählte. Er sah ihm an, dass er verzweifelt versuchte, sein Gesicht unterzubringen, das ihm irritierend vertraut vorkommen musste.
Draußen in der kühlen Luft zündete er sich hinter der gewölbten Hand eine Zigarette an und beschleunigte seine Schritte, da ihn ein wenig das Gewissen plagte, dass er seinem Fahrer einfach entwischt war. Er schien ein guter Junge zu sein.
Vor der FBI-Zentrale herrschte ein noch größeres Chaos als überall sonst in Washington, und es wurde mit jedem Tag schlimmer. Beamon blieb stehen und schnippte die Asche auf den Bürgersteig.
Es gab zwei Lager. Direkt dem Gebäude gegenüber standen die Demonstranten, die für das CDFS waren. Beamon zählte rund fünfzig Teilnehmer, und sie schienen inzwischen ziemlich gut organisiert. Ungefähr ein Drittel hielt Schilder hoch, die aus der Menge ragten wie die scharfen Stachel eines giftigen Meerestiers. Als sie zum ersten Mal aufgetaucht waren, war es nur ein Haufen rechtsgerichteter Großmäuler mit ein paar handgemalten Plakaten gewesen. Einen Tag lang war sogar ein Kerl in der Robe des Ku-Klux-Klan dabei gewesen.
Doch jetzt war die Gruppe konservativer gekleidet, und die Schilder waren professionell gemacht. Der Wind drehte ein wenig, sodass er ihren Sprechchor hören konnte. Wer Drogen nimmt, ist selber schuld.
Ungefähr fünfzig Meter weiter standen die Gegendemonstranten. Sie waren genauso gut gekleidet und trugen genauso professionell gemachte Schilder. Beamon konnte ihre Parolen nicht hören.
Die fünf oder sechs Polizisten, die verhinderten, dass sie aufeinander losgingen, schienen ständig in Gefahr, von der einen oder der anderen Gruppe überrannt zu werden – oder noch schlimmer, Partei zu ergreifen. Beamon warf seine Kippe auf den Bürgersteig und drückte sie mit dem Schuh aus. Er zündete sich sofort eine neue Zigarette an.
Seit dem Vietnamkrieg war das Land nicht mehr so gespalten gewesen, und die US-Regierung in ihrer unendlichen Weisheit hatte ihm den Auftrag erteilt, den Riss zu kitten. Er lachte bitter.
Der Präsident schien das Problem völlig zu ignorieren. Sicher, die Zeitungen brachten Statements, in denen er seine Betroffenheit äußerte und dass man mit ganzem Einsatz versuche, die Übeltäter zu finden und so weiter und so fort. Allerdings schien Jameson überhaupt nicht klar zu sein, dass diese ganze Geschichte wie eine Lawine mit unabsehbaren Folgen war, die immer gefährlicher wurde. Beamon dachte manchmal an einen großen Felsbrocken, der einen Abhang hinab rollte. Wenn er es geschafft hätte, die Mitglieder des CDFS gleich nach den ersten Vergiftungsfällen zu ergreifen, hätte man den Felsen vielleicht noch aufhalten können.
Inzwischen war zu viel Zeit verstrichen. Er würde diese Kerle letztlich fassen, daran hatte er keinen Zweifel. Aber wenn er das tat und sich damit sozusagen vor diesen Felsen warf, könnte er ihn auch ohne weiteres überrollen. Waren die Probleme im Zusammenhang mit Vietnam beendet gewesen, nachdem die Hubschrauber die letzten Amerikaner aus Saigon rausgeholt hatten? Nein, sie hatten angedauert und eine ganze Generation geprägt.
Und bei dieser Geschichte war es nicht anders. Jahrelang hatte man auf das wachsende Drogenproblem und die zunehmende Kriminalität in Amerika nur mit Lippenbekenntnissen reagiert. Doch nun hatte jemand eine wirksame Lösung angeboten. Und Amerika schien der Geschmack von Blut und die Veränderungen, die sich durch diese Lösung ergeben könnten, zu gefallen.
Beamon hob die Hände und versuchte, Laura gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen, doch er hatte natürlich keine Chance.
»Einen kleinen Spaziergang gemacht, wie ich höre?«
»Frische Luft ist gut für die kleinen grauen Zellen«, erwiderte Beamon und imitierte den belgischen Akzent seines Lieblingsdetektivs aus der Literatur.
»Sie können das nicht dauernd machen, Mark«, flüsterte sie ihm eindringlich zu. »Jedes Mal, wenn Sie zu spät zu den Besprechungen kommen, fangen Tom und die anderen an, hier rumzurennen, schauen den Leuten über die Schulter und machen sie nervös. Es kostet mich eine Stunde, bis ich alle beruhigt habe und die Arbeit weitergeht.«
»Ich mache das nur, damit ich sehen kann, wie Ihre Ohrenspitzen rot werden.«
Ihre rechte Hand fuhr unwillkürlich zu ihrem Ohr, und sie ließ sie hastig wieder sinken. »Sie haben offenbar riesigen Spaß dran, meine Nerven zu strapazieren, was?«
Er grinste und deutete mit einer übertriebenen Geste in Richtung des Konferenzraums, wo die anderen schon versammelt waren.
»Einen kleinen Spaziergang gemacht?«
Frank Richter und Laura hatten offensichtlich miteinander geredet.
Beamon gab keine Antwort und wandte sich an Tom Sherman. »Tut mir Leid, dass ich zu spät bin.« Sherman zuckte nur die Schultern.
Neben Richter und Sherman waren noch Dick Trevor und Trace Fontain anwesend. Beamon zwängte sich in seinen Stuhl. Der Tisch, den sie sich ausgesucht hatten, war ein bisschen zu klein für die Gruppe.
»Also, was hast du für uns, Mark?«, fragte Sherman.
»Zur Abwechslung endlich mal was Gutes.« Er klappte seinen übergroßen Aktenkoffer auf und zog einen kompliziert aussehenden Stereorecorder und ein leicht verknülltes Blatt Papier heraus, auf dem seine letzten Notizen standen.
»Die ersten guten Neuigkeiten sind, dass die Zahl der Toten zurückgegangen ist. Im Zusammenhang mit Koks gibt es fast gar keine mehr – abgesehen von dieser Geschichte mit Crack kürzlich hier in Washington, aber das war offenbar ein Einzelfall. Die Todesfälle durch Heroin scheinen ebenfalls abzunehmen.«
Lauras Tabellen hatten sich als überraschend exakt erwiesen und wurden gern zu Rate gezogen, um die Zahl der Toten abzuschätzen, die man noch zu erwarten hatte. Die Tatsache, dass es eine völlig zwecklose Übung war, schien man vor lauter Versessenheit auf Statistiken ganz zu übersehen.
»Was hast du über dieses vergiftete Crack herausfinden können?«, unterbrach Richter.
»Nicht viel. Bei dem Gift handelte es sich um Strychnin – vermutlich in Form eines handelsüblichen Rattengifts; wir müssten heute Nachmittag die Bestätigung bekommen. Natürlich versuchen wir zu ermitteln, wo es herstammt, aber wie ihr wisst, sieht es da eher finster aus.«
»Warum?«, warf Sherman ein.
»Nun, drei Viertel der Zeugen sind tot, und die anderen wollen nicht reden. Es scheint, dass die Gemeinde der Drogenkonsumenten sich eingeredet hat, hinter allem stecke nur die Regierung, und wir täten bloß so, als wollten wir die Sache aufklären, um auf diese Weise Informationen zu sammeln über Verteilerwege …« Er verstummte.
Tom Sherman schaute ihn unsicher an. »Gibt es sonst noch was?«
»Laura hat eine Theorie über die Strychninvergiftung. Und so ungern ich es zugebe, sie könnte Recht haben.«
Alle Blicke richteten sich auf Laura.
»Meiner Ansicht nach ist das Ganze eine ziemlich schludrige Aktion gewesen. Die Tatsache, dass diese Fälle von Strychninvergiftung nur in einem einzelnen Wohnblock aufgetreten sind und es bis heute keine weiteren gegeben hat, deutet darauf hin, dass die Drogen ziemlich weit unten in der Verteilerkette vergiftet wurden. Außerdem war das Gift wahrscheinlich irgendein Zeug, das jedermann in unzähligen Läden im Großraum von Washington kaufen kann. Deshalb habe ich … haben wir uns gefragt, ob überhaupt das CDFS dahinter steckt.«
»Ein Nachahmungstäter?«, meinte Sherman.
»Das wäre eine Möglichkeit. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, dass das alles gar nicht zu dem passt, was wir bisher über das CDFS wissen.«
»Ich hoffe, Sie irren sich«, seufzte Sherman.
Der Gedanke daran, dass es im ganzen Land zu Nachahmungstaten kam, sorgte allgemein für Bestürzung. Eine falsche Fährte in jedem einzelnen Bundesstaat.
»Das kann gut sein«, meinte Beamon. »Wenn ich zum CDFS gehörte, würde ich jedenfalls verschiedene Drogen mit verschiedenen Giften versetzen, um uns die Ermittlungen zu erschweren und die Drogenkonsumenten in ständiger Ungewissheit und Angst zu halten.«
Alle nickten zustimmend, und Beamon schaute zu Trevor. »Bei der DEA gibt es auch einige neue Infos.«
»Ja.« Trevors Stimme klang ruhig, fast deprimiert. Beamon hatte fast Mitleid mit ihm.
»Luis Colombar, der hier sicher jedem bekannt ist, hat verbreiten lassen, dass er nach einem US-Amerikaner sucht, der gezielte Fragen über die Herstellung von Drogen gestellt hat. Es heißt, er habe den Verdacht, dass man sein Koks in der Raffinerie vergiftet hat.«
Frank Richter stand auf, ging hinüber zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. »Das könnte gut sein – genau so würde ich es machen. Es lässt sich denken, dass die Sicherheitsvorkehrungen während der Herstellung nicht besonders streng sind. Vor allem sind sie nur darauf gerichtet, zu verhindern, dass jemand das Zeug stiehlt.«
Beamon nickte. »Stimmt. Und es gäbe keinen besseren Weg, eine große Menge mit einem einzigen Schlag zu vergiften.«
»Ist bekannt, ob er irgendwelche Hinweise bekommen hat?«, fragte Sherman.
Trevor zuckte die Schultern. »Nein, ihr wisst ja, dass wir keinen Erfolg damit hatten, jemanden bei Colombar einzuschleusen.«
Ein langes Schweigen folgte. »Hast du gestern Abend ferngesehen, Dick?«, fragte Sherman schließlich. »Sämtliche Sender scheinen deine Statistiken zu bringen.«
Trevor zuckte zusammen. »Wir versuchen, das Leck zu finden, aber ich habe nicht viel Hoffnung. Gleich nachdem wir miteinander gesprochen hatten, habe ich Anweisung gegeben, keine Statistiken mehr zu führen – aber ich kann die Agenten draußen auf den Straßen nicht davon abhalten, miteinander zu reden.«
»Stimmen die Zahlen?«
»Ich weiß nicht.«
Shermans Stimme wurde leiser. »Stimmen diese Zahlen?«
Es war bekannt, dass Sherman umso wütender war, je ruhiger er wurde. Wenn man Mühe hatte, ihn zu verstehen, konnte man sich auf etwas gefasst machen.
»Ja, sie stimmen. Plus oder minus fünf Prozent. Für die Zahlen über die Entzugskliniken kann ich nicht garantieren. Wenn das in diesem Tempo weitergeht, könnten wir erleben, dass es in ein paar Monaten keinerlei Koks und Heroin mehr in unserem Land gibt.«
Beamon zog ein T-Shirt aus seiner Aktentasche und hob es hoch. »Habt ihr das schon gesehen? Hab ich gestern entdeckt.« Die Vorderseite zeigte den Kreideumriss eines Menschen auf einem Bürgersteig, neben dem eine rauchende Crackpfeife lag; darunter stand der Schriftzug: ›Ich hab’s nicht anders gewollt.‹
Beamon warf das Hemd Laura zu. »Ein Souvenir.«
»Sehen wir der Sache ins Gesicht. Die öffentliche Meinung wendet sich sowieso mehr und mehr gegen uns«, fuhr er fort. »Da spielt es auch keine Rolle mehr, dass diese Zahlen der DEA durchgesickert sind.«
»Okay, genug davon«, sagte Sherman. »Wie steht es in Polen?«
»Ich denke, alle haben schon gehört, dass Scott Dresden den Kerl ausfindig gemacht hat, der die Pilze beschafft hat. Offensichtlich führt er ein Unternehmen, das exotische Produkte an Restaurants liefert. Unser Verdächtiger hat sich als Akademiker ausgegeben, der die Pilze zur Krebsbehandlung einsetzen wollte.«
»Beschreibung?«
»Ja.« Beamon zog seine Brille aus der Hemdtasche und las von dem Blatt ab, das vor ihm lag. »Klein, ungefähr eins siebzig, und dünn. Langes hellbraunes Haar und ein Bart, Nickelbrille, und – das ist interessant – er beschreibt ihn als irgendwie kalt.«
Richter schaute ihn verwundert an. »Was ist daran interessant? Dass dieser Kerl eiskalt ist, hätte ich dir auch sagen können.«
»Erinnere dich mal dran – die Frau, die ihn in der Bank bedient hat, hat genau das Gleiche gesagt.«
»Also ist es ein und derselbe Kerl?«
»Laura und ich würden unseren Hintern darauf verwetten.«
»Und was bringt uns das?«
»Eigentlich nichts. Scott ist überzeugt, dass dieser Pilztyp – Lech sowieso – daran beteiligt war, sie hierher zu schmuggeln. Ihr erinnert euch, dass der Zoll keine Unterlagen über eine solche Lieferung hat. Jedenfalls verfolgt er die Sache weiter. Und in dem Zusammenhang hat Trace einige Informationen, von denen ich weiß, dass sie eure finsteren Herzen erfreuen werden. Nachdem wir jetzt wissen, wie viele Pilze verschifft worden sind, können wir versuchen, die Zahl der potenziellen Opfer abzuschätzen. Trace?«
Fontain räusperte sich. »Mr. Orloski gibt an, dass er unserem Verdächtigen ungefähr eineinachtel Tonnen Pilze geliefert hat. Falls die Weiterverarbeitung durch das CDFS einigermaßen effizient war, bedeutet das ungefähr siebenundneunzigtausend Tote.«
Sherman stöhnte.
»Tatsächlich ist das nicht so schlimm, wie es klingt. Meine Analyse der verseuchten Drogen zeigt, dass das CDFS ungefähr anderthalbmal so viel Gift benutzt hat, als nötig gewesen wäre – was die geringe Zahl der Vorfälle ohne tödliche Folgen erklärt. Dadurch müssen wir unsere Schätzung ziemlich signifikant nach unten korrigieren, außerdem muss man mit einbeziehen, dass manche sich sozusagen mehrfach vergiften. Zum Beispiel könnte ein Heroinabhängiger einen Vorrat für zwei Wochen kaufen und ohne es zu wissen schon vierzehn tödliche Dosen für sich allein verbrauchen.«
Beamon unterbrach den Wissenschaftler. Sie würden noch den ganzen Tag hier sitzen, wenn er ihn weiter fachsimpeln ließ. »Okay, Trace, zur Sache: Wie viele Menschen können sie im schlimmsten Fall töten?«
»Schätzungsweise sechsunddreißigtausend.«
»Vorausgesetzt, dass sie nicht auch noch mit anderen Giften herumpfuschen.«
Fontain zuckte die Schultern und nickte.
Beamon konnte an den Gesichtern der anderen sehen, dass sie drauf und dran waren, den Wissenschaftler mit endlosen Fragen zu bestürmen, und beschloss, es kurz zu machen. »Danke, Trace. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten. Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben.«
Fontain stand auf und huschte eilig aus dem Raum, ehe ihn irgendjemand aufhalten konnte.
»So, jetzt wisst ihr, wie es aussieht. Und nun wollen wir uns wieder mit normaler Polizeiarbeit beschäftigen.« Er griff in seine Jackentasche und zog eine Tonkassette heraus. Es dauerte etwas, bis er herausgefunden hatte, wie er das Band in den tragbaren Recorder auf dem Tisch schieben musste, aber schließlich klappte es, und er drückte den Startknopf.
»Ich habe das Beste für den Schluss aufgehoben.«
Nichts passierte.
»Haben Sie auch Batterien eingelegt, Mark?«, fragte Laura verschmitzt.
»Batterien? Nee. Sind die nicht schon drin?«
Mit einem Seufzer streifte sie das Gummiband von dem fest zusammengewickelten Kabel und steckte es in eine Steckdose in der Wand. Der Recorder erwachte zum Leben, das Band lief an, und Beamon drückte den Pausenknopf. »Das hat mir gestern eine der Telefonistinnen von der Mordleitung gebracht.«
Die Hotline, die man für anonyme Hinweise eingerichtet hatte, wurde allgemein nur noch ›Mordleitung‹ genannt wegen der Unmengen von Morddrohungen, die Beamon jeden Tag erhielt. Offenbar gab es mehr als nur ein paar Leute, die etwas dagegen hatten, dass das FBI so rücksichtslos war und gegen das CDFS vorging, das doch dabei war, endlich das Drogenproblem zu lösen.
»Ich habe das Band per Computer bearbeiten lassen. Es war zuerst ziemlich schwer zu verstehen. Der Kerl hat den alten Trick benutzt und ein Tuch über das Mundstück gelegt.«
»Ließ sich feststellen, woher der Anruf kam?«, fragte Richter.
»Ein Münztelefon zwischen hier und Baltimore.« Beamon drückte wieder den Pausenknopf, und das Band begann zu laufen.
Zunächst hörte man die Stimme der Telefonistin. »FBI.«
Der Anrufer war hörbar nervös. »Hallo … ich, äh, ich dachte, es würde Sie interessieren, dass sie am achtundzwanzigsten eine Sendung Kokain vergiften wollen. In einem von Anthony DiPrizzios Lagerhäusern im Hafen von New York.« Pause.
Die Stimme der Telefonistin. »Sir, können Sie mir Ihren Namen nennen und wie Sie an diese Informationen gekommen sind?«
»Nein. Aber damit Sie wissen, dass es wahr ist, will ich Ihnen eins sagen: Das Gift stammt von Pilzen, die in der Nähe von Warschau wachsen.« Das Freizeichen ertönte.
Beamon stoppte den Recorder, holte das Band heraus und steckte es wieder in die Jackentasche.
»Ihr wisst alle, dass wir nie bekannt gegeben haben, um welches Gift es sich handelt.«
Sherman schien seine Zweifel zu haben. »Wir nicht, aber es gibt verdammt viele Leute im Gesundheitswesen, die davon erfahren haben. Du denkst, da könnte was dran sein?«
»Kann man nie wissen. Ich treffe mich jedenfalls heute Nachmittag um vier in New York mit DiPrizzio. Joe hat es arrangiert.«
»Das dürfte eine interessante Zusammenkunft werden. Sonst noch was?« Sherman blickte in die Gesichter rings um den Tisch. Niemand meldete sich.
»Okay, dann wollen wir wieder an die Arbeit gehen.«
Alle standen auf, zogen die Jacketts von den Stühlen und klemmten sich ihre Notizbücher unter die Arme.
»Hast du noch ein paar Minuten, Mark?« Es war eigentlich keine Frage. Die anderen beeilten sich, das Zimmer zu verlassen. Laura war die Letzte und mühte sich, die Tür zu schließen, während sie in einer Hand einen Kaffeebecher hielt und in der anderen den tragbaren Stereorecorder. Sherman stand auf, reichte ihr das baumelnde Kabel und schloss leise die Tür.
Beamon schob die Stühle rechts und links etwas zur Seite, damit er Platz genug hatte, um die Beine auszustrecken. Liebend gern hätte er jetzt eine Zigarette geraucht, aber er verkniff es sich.
»Glaubst du, dein Treffen mit DiPrizzio könnte was bringen, Mark?«
»Wahrscheinlich nicht – aber wir müssen alles versuchen. Also, was ist los, Tommy? Du hast mich doch nicht wegen dieser Frage nachsitzen lassen.«
»Ach, jeden Tag die gleiche Scheiße. Probleme, Probleme.« Sein Lächeln war gezwungen. Beamon nickte ermutigend.
»Calahan und ich haben uns gestern mit dem Präsidenten getroffen.«
»Hab ich gehört – mein Beileid.«
Wieder lächelte Sherman gequält.
»Der Präsident ist nicht gerade glücklich, Mark. Ich würde sogar sagen, dass er dabei ist, in Panik zu geraten.« Beamon öffnete den Mund, doch sein Freund ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Die Reaktion der Bevölkerung hat ihn ziemlich überrumpelt und in eine unmögliche politische Position gebracht. Er muss das CDFS als radikale Gruppe verdammen, aber das kann er nicht allzu nachdrücklich, ohne die vielen Leute zu verärgern, die für das CDFS sind.«
»Ich habe eine ganz verrückte Idee, Tommy«, entgegnete Beamon verärgert. »Warum, zum Teufel, entscheidet er sich nicht einfach für eine Seite und sagt, wie er wirklich denkt, statt sich von einem Haufen Kriecher vorschwatzen zu lassen, was die Mehrheit der Wähler angeblich hören will? Es ist ihre eigene Schuld, gottverdammt! Wenn die Jungs auf dem Capitol Hill nicht ihre ganze Zeit damit verbringen würden, Mädchen zu jagen und Gelder für den nächsten Wahlkampf zu sammeln, hätte es so was wie das CDFS vielleicht nie gegeben.«
»Es ist nun mal, wie es ist, Mark, das weißt du selbst. Du hältst dich gern an Fakten, und Fakt ist Folgendes: Präsident Jameson hat nur eine einzige Chance, den nächsten Wahlkampf zu gewinnen – nämlich dann, wenn diese Kerle rasch geschnappt werden. Er hofft, dass das Thema bis dahin in Vergessenheit geraten ist. Er meint es ernst, Mark. Er hat uns tatsächlich zu verstehen gegeben, dass es für das Land am besten wäre, wenn es gar nicht erst zu einer ewig langen Gerichtsverhandlung käme.«
Beamon schaute ihn ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst! Was hast du gesagt?«
»Ich habe ihm gesagt, wir täten so was nicht.«
Beamon schnaubte. »Herrgott!«
»Das bleibt strikt unter uns, Mark. Ich will dir nur deutlich machen, was Sache ist.«
»Was meinst du damit?« Er wusste es sehr gut.
»Dich wird letzten Endes jeder verantwortlich machen – so oder so.« Sherman konnte ihm nicht in die Augen schauen. »Tut mir Leid, dass ich dich in diese Sache reingezogen habe.«
Beamon schlug ihm auf die Schulter.
»Kopf hoch, Tommy. Ich wusste ja, auf was ich mich einließ.« Das stimmte natürlich nicht ganz. Niemand hatte vorhersagen können, wie dieser Fall die gesamte Nation spalten würde.
»Wer hat noch mal gesagt, dass es so was wie schlechte Publicity nicht gibt? Du würdest nicht glauben, was für Anrufe ich aus der Privatindustrie kriege – ich werde jedenfalls nicht als armer Schlucker in den Ruhestand gehen müssen.«
Das entsprach durchaus den Tatsachen. Es gab nichts, das die amerikanische Öffentlichkeit mehr respektierte als Ruhm. Unternehmen aller Art rannten ihm buchstäblich die Tür ein und boten ihm die unterschiedlichsten Positionen an. Jedes Angebot war spektakulärer als das vorherige. Und für seine Autobiografie hatte man ihm bereits einen Vorschuss von 1,2 Millionen Dollar garantiert.
Sherman fühlte sich offenbar ein wenig getröstet und schwieg, als sein Freund der Versuchung nachgab und in dem schlecht belüfteten Raum eine Zigarette anzündete. Wenigstens war der Filter noch dran.
»Du kannst mir glauben, Tommy, ich sehe diesen Fall nicht als amüsanten Zeitvertreib, ich tue vielmehr alles, was ich kann.«
»Ich kritisiere dich auch nicht, Mark. Du bist der beste Mann für den Job. Das habe ich auch Jameson gestern wieder gesagt.«
»Hat er es geglaubt?«
»Schön, dich zu sehen, Joe«, sagte Beamon und streckte die Hand aus. Er musste etwas lauter reden, damit man ihn trotz des chaotischen Lärms, der ständig im größten Büro des FBI herrschte, verstehen konnte.
»Willkommen in New York, Mark. Lass uns nach hinten gehen.« Joe Sheets deutete über das Gewimmel von Agenten und Büroangestellten auf die offene Tür zu seinem Büro.
Unzählige Erinnerungen stiegen in Beamon bei der Begegnung mit Sheets auf, den er seit Jahren nicht gesehen hatte. Sie waren Zimmergenossen in der Academy gewesen und rasch Freunde geworden während ihres zwölfwöchigen Lehrgangs – trotz der Tatsache, dass sie völlig unterschiedliche Menschen waren. Beamon war in den akademischen Fächern der Beste in seiner Klasse gewesen, aber weniger als durchschnittlich in allen sportlichen Disziplinen. Seine Leistungen waren sogar so schlecht gewesen, dass Sheets ihn angerufen hatte, als zum ersten Mal Frauen zur Ausbildung aufgenommen worden waren, nur um darauf hinzuweisen, dass Beamon mit seiner Zeit über eine Meile nicht einmal bei ihnen hätte mithalten können.
Sheets hatte in keinem Fach besonders geglänzt, aber überall solide Leistungen gezeigt. Fairness, Zuverlässigkeit und harte Arbeit hatten ihm eine Stelle als stellvertretender Direktor eingebracht und die Leitung des New Yorker Büros, was er nach Beamons Ansicht zu Recht verdiente.
Er schaute sich in dem geräumigen Büro seines Freundes um und deutete auf ein Bild an der Wand. »Herrgott, ist das von Bobby?«
Sheets setzte sich auf das etwas abgewetzte Sofa und lächelte. »Er nennt sich jetzt Robert und lebt in Chicago. Ist das nicht typisch, dass mein Sohn der einzige Künstler in der Welt ist, der nicht in New York leben will?«
Beamon lachte. Die Behauptung, dass Sheets und sein Sohn selten einer Meinung waren, wäre eine Untertreibung. Wenn er sich richtig erinnerte, verstand sein alter Zimmergenosse unter einem guten Gemälde ein Bild von pokerspielenden Hunden, und sein Sohn sah alle FBI-Agenten als Faschistenschweine. Ein wenig räumliche Distanz tat ihnen vermutlich ganz gut.
Beamon füllte sich einen Becher am Wasserbehälter in der Ecke und setzte sich zu ihm. »Man kann sie wohl nicht daran hindern, flügge zu werden.«
»Das kann man nicht«, stimmte Sheets zu und schaute auf seine Uhr. »Du bist spät dran. Unser Gast müsste jeden Moment hier sein.«
Beamon nickte und trank einen Schluck.
»Also, worum geht es eigentlich, Mark? Ich hätte ja gedacht, dass du mit dieser CDFS-Geschichte mehr als genug am Hals hast, um dir noch Sorgen über unsere Probleme mit organisierter Kriminalität zu machen.«
Beamon schaute sich um, ob die Tür richtig geschlossen war.
»Wir haben einen Tipp bekommen, dass sie eine Lieferung an DiPrizzio vergiften wollen.«
»Das CDFS? Wer hat euch das gesteckt?«
»Kam anonym.«
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch, und eine rundliche Frau streckte den Kopf herein. »Mr. DiPrizzio ist hier zu seiner Verabredung um drei Uhr.« Ihr Ton klang so gelangweilt, als ob der mächtigste Mafiaboss in New York um diese Zeit immer mal kurz vorbeischaute.
»Führen Sie ihn bitte in Konferenzraum zwei, Joan.«
Beamon stand auf und warf den zerknüllten Pappbecher in den Abfalleimer, den er um knapp einen Meter verpasste. »Dann mal los.«
Sheets hob den Becher auf und warf ihn hinein.
»Mr. DiPrizzio – ich bin Mark Beamon.« Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.
»Ich kenne Sie aus der Zeitung, Agent Beamon. Freut mich, Sie zu treffen. Und es ist schön, Sie mal wiederzusehen, Agent Sheets.«
»Tony«, nickte Sheets, der ihn weniger aus Vertrautheit, sondern vielmehr aus Verachtung beim Vornamen nannte.
»Kennen Sie schon meinen Anwalt, Glenn Montrose?« DiPrizzio deutete auf den schwergewichtigen Mann, der neben ihm stand. Montrose reichte niemandem die Hand, sondern nahm wortlos Platz. Bei seinem Körperbau fiel ihm das Stehen etwas schwer.
Beamon beobachtete, wie DiPrizzio lässig durch den Raum ging und sich mit dem Rücken zur Wand setzte. Trotz seiner relativen Jugend – er war erst vor einer Woche siebenunddreißig geworden – strahlte er eine auffällige Selbstsicherheit aus. Falls er irgendwelches Unbehagen darüber empfand, aus unbekannten Gründen zum FBI zitiert worden zu sein, ließ er es sich nicht anmerken.
»Ich möchte nicht mehr Ihrer Zeit in Anspruch nehmen als nötig, Mr. DiPrizzio. Deshalb komme ich direkt zur Sache«, sagte Beamon.
»Dafür wäre ich Ihnen dankbar«, erwiderte DiPrizzio und schaute fast demonstrativ auf seine teure Uhr.
»Wir haben Informationen, dass das CDFS es auf eine Drogenlieferung an Sie abgesehen hat.«
DiPrizzio zuckte mit keiner Wimper. »Das ist lächerlich. Ich bin ein gesetzestreuer Bürger und ein ehrenwerter Geschäftsmann. Das möchte ich noch mal ausdrücklich wiederholen – ein gesetzestreuer Bürger und ehrenwerter Geschäftsmann. Es verwundert mich immer wieder, dass das FBI mich und meine Familie fortgesetzt schikaniert, nur weil wir erfolgreich und italienischer Abstammung sind. Sie haben absolut keinen Beweis, dass ich je etwas Schlimmeres getan habe, als mal im Halteverbot zu parken.«
DiPrizzio schien sich für seine Opferrolle erwärmen zu wollen, und Beamon hatte keine Zeit für derartige Spielchen. Er deutete zu den Fenstern des Konferenzraums, gegen die der Regen prasselte, dass es aussah, als stünde das Gebäude in einer Autowaschanlage.
»Es ist heute so ein schöner Tag. Hätten Sie nicht Lust, mir ein paar Sehenswürdigkeiten zu zeigen – Sie sind doch mit dem Wagen hier, oder?«
DiPrizzio schien für einen Moment überrascht, gewann aber schnell seine Fassung wieder. »Gern.«
»Prima. Joe, du kannst Glenn ein bisschen herumführen. Tony zeigt mir unterdessen den Times Square.«
Montrose begann sich aus seinem Stuhl zu quälen und wollte protestieren. Aber sein Klient war bereits aufgestanden und ging mit Beamon zur Tür.
»Herrgott!«, rief Beamon, dass seine Stimme von den Wänden der Parkgarage widerhallte. »Was, zur Hölle, haben Sie vor – mich unfruchtbar zu machen?« DiPrizzios Chauffeur hatte mit eisernem Griff seine Hoden gepackt.
»Tut mir Leid, Sir. Aber das scheint eine beliebte Stelle für versteckte Mikros zu sein.« Er hatte ein sadistisches Grinsen auf dem Gesicht. Vermutlich wollte er immer schon mal einen FBI-Mann bei den Eiern packen.
»Na, ich hoffe, Sie sind zufrieden«, sagte Beamon und rieb sich vorsichtig seinen Schritt.
»Fast.« Der Chauffeur beugte sich in die Limousine und holte aus dem Fach an der Tür einen Metalldetektor, wie man ihn auf Flughäfen benutzte. Sorgfältig fuhr er damit jeden Zentimeter von Beamons Körper ab. Es piepste bei seiner Gürtelschnalle und der Armbanduhr.
DiPrizzio schien überrascht. »Keine Waffe, Agent Beamon?«
»Ruiniert bloß den Sitz meines Anzugs.« Er glättete seine abgewetzten Revers.
DiPrizzio lachte und öffnete ihm die Hintertür. Beamon stieg ein.
»Fahr einfach los, Billy.« Der Chauffeur grunzte und setzte sich hinters Steuer.
»Netter Wagen. Ist das eine Bar?«
»Exakt. Wie wäre es mit einem Cocktail?«
»Wenn Sie auch einen nehmen?«
DiPrizzio schenkte zwei Bushmills ein. Der Wagen verließ die Parkgarage und glitt fast lautlos durch den dichten New Yorker Verkehr.
»Also, was haben Sie gesagt, Agent Beamon?«
»Mark, bitte.«
»Mark.«
»Ich habe gesagt, dass das CDFS es vermutlich auf eine Lieferung abgesehen hat, die Sie erwarten.«
DiPrizzio nickte nachdenklich und nippte an seinem Glas. »Interessant. Was schlagen Sie vor?«
Beamon ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken. Er war beinahe schon sicher gewesen, dass er überhaupt nichts bezwecken würde. »Wir kennen das Datum und wissen ungefähr wo. Ich schlage vor, dass Sie uns sagen, wo das Zeug genau angeliefert wird, und wir schnappen diesen Kerl – wie man so sagt – auf frischer Tat.«
DiPrizzio lachte laut auf. »Ihr Freund Sheets ist seit fast fünf Jahren hinter mir her, Mark – und jetzt möchten Sie, dass ich Sie direkt zu meiner Ware führe und Ihnen die Beweise gegen mich auf dem Silbertablett präsentiere?« Er tupfte sich die Augenwinkel mit einem leinenen Taschentuch. »Das ist gut.«
»Hören Sie, ich sage es wirklich nur sehr ungern, aber wir stehen in diesem Fall auf derselben Seite. Wir wollen beide, dass diese Burschen gefasst werden – Sie wollen, dass die Nachfrage für Ihre Ware wieder steigt, und ich will, dass nicht noch mehr Menschen umkommen. Ich garantiere Ihnen, dass wir alles vergessen werden, was wir sehen.« Beamon griff nach der Flasche Bushmills, füllte sich sein leeres Glas und schenkte auch DiPrizzio nach.
»Da Sie mich nun vorgewarnt haben, brauche ich Sie eigentlich nicht mehr. Oder?«
»Kommen Sie, Tony. Es könnte überall und jederzeit passieren. Sie müssten für die nächsten sechs Monate viermal so viel Leute einstellen, was Sie viermal so viel kosten würde – und es gäbe trotzdem keine Garantie, dass Sie diesen Kerl erwischen.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mark, wie wir beide unsere Probleme rasch und schmerzlos lösen könnten. Mit ein wenig Glück könnten Sie nächste Woche um diese Zeit schon an Ihrem Pool sitzen.«
Offensichtlich hatte auch DiPrizzio ein wenig Hausaufgaben gemacht.
»Ich höre.«
»Sie stimmen mir sicher zu, dass ich … Befragungstechniken habe, die Ihnen nicht zur Verfügung stehen.«
Beamon nickte. Er wusste, was jetzt kommen würde.
»Sie sagen mir, wann und wo, und ich schnappe mir diesen Kerl. Am nächsten Morgen haben Sie in der Post ein Dossier mit allem, was Sie über das CDFS wissen möchten. Ich glaube, das löst unsere jeweiligen Probleme. Ich muss das FBI nicht bei mir herumschnüffeln lassen, und Sie bereinigen diese Affäre rascher, als Sie es allein hätten schaffen können.«
Der Wagen schlingerte heftig, und Beamon schaute durch das getönte Seitenfenster. Eine Gruppe von Arbeitern in orangefarbenen Overalls redete hitzig miteinander neben einem offenen Kabelschacht. Zu hören war jedoch nichts.
»Ein verlockendes Angebot, Tony. Sehr verlockend sogar. Aber ich glaube nicht, dass wir schon derart verzweifelt sind.«
DiPrizzio lächelte fast unmerklich. »Viel fehlt sicher nicht mehr.«
»Das stimmt«, gab Beamon zu und musterte das Handy, das neben ihm lag.
»Ich glaube, ich habe schlechte Neuigkeiten.« Robert Swenson ließ sich auf einen Stuhl fallen und warf seinen feuchten Mantel auf die Sofalehne. Hobart hob einen Zeigefinger, um anzudeuten, dass er sich gerade konzentrierte, und tippte weiter Zahlen in den Computer.
Die Kosten des Unternehmens waren anfangs ein wenig höher gewesen als erwartet, hatten sich aber allmählich eingependelt und bewegten sich nun im vorgesehenen Rahmen. Der Fonds, den er für unvorhergesehene Zwischenfälle eingerichtet hatte, war seit über einem Monat nicht angerührt worden. Hobart hatte Bill Karns ohne Umschweife erklärt, dass er die Kosten für seinen Umzug selbst tragen müsse – und dass er keine weiteren eigenmächtigen Operationen mehr dulden würde. Karns hatte zwar versucht, sich zu verteidigen, aber am Ende hatte er sich überschwänglich entschuldigt und Hobart versichert, dass er von nun an ein vorbildlicher Soldat sein würde.
Zufrieden mit dem Ergebnis, speicherte Hobart die Datei und schaltete den Computer ab. »Ein Bier?«
»Klar, gern.«
Er nahm die letzten beiden Flaschen aus dem kleinen Kühlschrank und machte sich im Geist eine Notiz, einen neuen Sechserpack aus der Wohnung mit herunterzubringen. »Also? Was gibt’s?«
»Sieht so aus, als seien deine Freunde aufgetaucht.«
Hobart kaute schweigend auf seiner Unterlippe und öffnete die Flasche. Reed Corey entkommen zu lassen war bislang der größte Fehler gewesen – wahrscheinlich wesentlich schlimmer, als Karns eine zu lange Leine zu lassen.
Nach der Rückkehr aus Kolumbien hatte er seinen Partner angewiesen, ein paar Mal die Woche an seinem Haus vorbeizufahren und zu schauen, ob dort irgendwelche Gestalten herumlungerten.
»Ich habe sie zum ersten Mal am Dienstag gesehen, und als ich heute vorbeigefahren bin, waren sie immer noch da. Zwei Latinos, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, in einem roten Nissan Maxima. Gut gekleidet, aber trotzdem auffällig, weißt du? Der Wagen und die Kleidung passen zwar in die Gegend, aber nicht ihre Gesichter.«
Die erste Regel bei Beschattungen, dachte Hobart. Sich an die Umgebung anpassen. Keine Kleinigkeit für zwei junge Latinos in Roland Park, eines von Baltimores vornehmsten Vierteln.
»Verdammt.« Er hatte es kommen sehen, aber immer einen Schimmer Hoffnung gehabt, dass Corey doch nicht zwei und zwei zusammenzählen würde – oder noch besser, dass er inzwischen unter einen Bus geraten war.
»Wir werden uns darum kümmern müssen.«
»Ich weiß, dass die meisten dieser Schlägertypen Idioten sind, trotzdem muss man doch nicht unnötig was riskieren«, meinte Swenson besorgt. »Warum lassen wir sie nicht einfach in Ruhe? Wir wissen, dass sie da sind, und du machst um dein Haus sowieso einen Bogen von zehn Meilen.«
Hobart schüttelte den Kopf. Man merkte, dass sein Partner kein Schach spielte. Es war nicht der nächste Schritt, der zählte, sondern der übernächste. »Wenn ich glauben würde, sie würden bloß dasitzen und sich in der Nase bohren, dann ja. Aber das werden sie nicht.«
»Wieso? Du hast dein Aussehen verändert und dieses Haus unter einem falschen Namen gemietet. Besorg dir einen Mietwagen, und sie haben überhaupt keine Chance, dich je ausfindig zu machen.«
»Vielleicht. Aber sie sind es nicht, um die ich mir Sorgen mache. Wenn sie merken, dass ich nicht zurückkomme und sie mich nicht finden können, werden sie dem FBI einen Tipp geben. Als der momentane Anführer des Kartells wird Luis Colombar unter ziemlichem Druck stehen, diese Sache rasch zu bereinigen.«
Swenson schien immer noch nicht zu verstehen. »Und was nutzt es, sie zu töten? Die Kolumbianer werden bloß umso früher das FBI informieren. Und wir bringen uns unnötig in Gefahr.«
Hobart trank einen Schluck Bier und fragte sich, wie es möglich war, dass sein Partner so viele Jahre bei der Drogenfahndung gewesen war und immer noch nicht die Denkweise des Gegners verstand.
»Vertrau mir, Bob.« Er stand auf und verließ das Büro. Trotz der feuchten Kälte ging er in Hemdsärmeln rings um das Gebäude und hinauf in seine Wohnung. Dort schlenderte er zum Schachbrett, das neben dem Fernseher stand, und rückte zwei blaue Bauern vor, sodass sie den König bedrohten. Lange stand er vor dem Brett, verschob im Geiste die Spielfiguren und dachte sich raffinierte Angriffe und Verteidigungsstrategien aus. Schließlich riss er sich los und holte aus dem Kühlschrank noch ein kaltes Bier.